Nobel und ästhetisch: die deutsche Bäderarchitektur an der Ostsee
Von Boltenhagen bis Usedom bietet die Ostseeküste Mecklenburg-Vorpommerns eine Fülle von Bauwerken, die der Bäderarchitektur oder Seebad-Architektur zugerechnet werden. Die Bauweise zahlreicher Gebäude in Weiß oder Pastell beispielsweise in Kühlungsborn, Binz auf Rügen oder in den Kaiserbädern Usedoms strahlt einen nostalgischen Charme aus, der die Bäderarchitektur so attraktiv macht und die Anziehungskraft der beliebten Ostseebäder erhöht. Hotels, Villen und Seebrücken erinnern an sogenannte gute alte Zeiten und beschwören ein Lebensgefühl herauf, das Hunderttausende Touristen fasziniert.
Die Ursprünge der Bäderarchitektur
Bei der «kaiserzeitlichen Seebäderarchitektur», wie sie auch genannt wird, handelt es um keinen eindeutigen Baustil, sondern eher um einen Mischmasch von Dekors, die teilweise recht wahllos ausgesucht wirken und von Puristen sogar als «Gründerkitsch» abgetan werden. Die zwischen 1870 und 1938 entstandene Bäderarchitektur kann also weder als stringenter Architekturstil noch als Kunstrichtung angesehen werden. Vielmehr findet sich bei manchen der üppig verzierten Gebäude alles, was einzelne Epochen und frühere Baustile hergaben: Erker, Türmchen, Balustraden aus Stein oder Holz, Säulen, filigranes Schnitzwerk und Fassadenschmuck mit maritimen Motiven. Die Ursprünge der Bäderarchitektur liegen im späten Klassizismus, dessen Merkmal geradlinige und emporstrebende Linien sind. Das älteste deutsche Seebad Heiligendamm entstand 1793 und wird heute verklärt als «Weiße Stadt am Meer» bezeichnet. Der zu DDR-Zeiten ergraute Badeort gilt als Meisterwerk des Klassizismus. Nach der Wende befanden sich die vornehmen Villen in einem beklagenswerten Zustand. Doch auch aufwendige Restaurierungen konnten den Ort des G8-Gipfels von 2007 nicht davor bewahren, quasi in Schönheit zu sterben. Für den normalen Ostseeurlauber blieb Heiligendamm zu edel, zu abgehoben, zu teuer. Touristen fühlen sich wohler in der Kulisse der Badeorte, in denen sich historische Bauwerke und mehr oder weniger gelungene Neubauten, die der Ästhetik typischer Seebad-Architektur nachempfunden wurden, aneinanderreihen und einen Hauch von Exklusivität verströmen, der bezahlbar und erlebbar ist. Das Noble, Fantasievolle, Pompöse und teilweise leicht Protzige, das manche der Gebäude der Bäderarchitektur im Gegensatz zu den klaren Linien der «weißen Perlen» in Heiligendamm ausstrahlen, zieht vor allem Städter in seinen Bann.
Die Bäderarchitektur trieb auch seltsame Blüten
Die gut betuchten Bauherren aus Berlin und den Hansestädten, die sich um die Jahrhundertwende stattliche Feriendomizile an der Ostsee bauten, achteten durchaus auf die Baukosten. So gingen zahlreiche Handwerker dazu über, ihren Auftraggebern günstige Angebote für die eindrucksvolle Ausschmückung ihrer Immobilien zu unterbreiten. Dabei bedienten sie sich der Entwürfe klassischer Handwerks- und Baumeister oder Künstler und arbeiteten häufig mit der aufkommenden maschinell hergestellten Massenware wie Eisengittern und Wandfliesen. Sie nutzten außerdem antike Ornamentstiche als Vorlagen für die Dekoration der Fassaden. Dabei kam alles zum Einsatz, was gefiel. Stiltreue wurde bei der Bäderarchitektur nicht verlangt – die Häuser sollten repräsentativ und elegant zugleich wirken. Wer vor einem kompletten Ensemble historischer Bädervillen wie in der Bergstraße im Kaiserbad Bansin auf Usedom steht, kann sich dem Reiz der imposanten, ausgewogenen und überwiegend weißen Fassaden kaum entziehen. Florales Schnitzwerk über den Balkonen, von geschnitzten Giebeln gekrönte Risaliten und effektvolle oder dezente Kontrastfarben fügen sich auf den ersten Blick zu einer harmonischen Einheit. Dass sich bei der Bäderarchitektur der in der wilhelminischen Zeit beliebte Neobarock mit Neoklassizismus und aus Skandinavien entlehnter Baukunst munter mischt, fällt nur Experten auf. Spektakulär in ihrer Wirkung sind beispielsweise die «Villa Hintze» ganz in Rosa, die Villa Ikarus im mediterran anmutenden «Freistil» oder die in sattem Ocker gehaltene «Villa Oechsler» in Heringsdorf. Geschichtsträchtig ist die 1883 erbaute neoklassizistische «Villa Oppenheim», ein Lieblingsmotiv der Künstlers Lyonel Feininger. Als prächtig lassen sich in den Kaiserbädern ebenfalls die Heringsdorfer «Villa Aegir» sowie der «Ahlbecker Hof» bezeichnen.
Juwele der Bäderarchitektur in den Ostseebädern
Weitere Baustile wurden in die Seebad-Architekur integriert – so lassen sich Einflüsse vom Historismus bis zum Jugendstil bei den Villen in Binz, Sellin und Göhren auf Rügen nicht verleugnen. Die heute vorwiegend als Urlaubsunterkünfte und Hotels genutzten Prachtbauten spiegeln die großbürgerliche Atmosphäre jener Zeit wider, als die großen Seebäder noch keine modernen Erholungsorte waren, in denen Senioren und Familien Aktiv- und Wellness-Urlaub machten. Die charakteristische Bäderarchitektur in Boltenhagen, Kühlungsborn, auf Rügen und Usedom blieb in großen Teilen erhalten und wurde überwiegend liebevoll restauriert. Die schmucken Häuser sind maßgeblich am Aufschwung des Tourismus in Mecklenburg-Vorpommern beteiligt. Als sich zur Kaiserzeit die Hautevolee aus Industriellen, Bankern, Gelehrten und Künstlern in Bansin, Heringsdorf und Ahlbeck auf Usedom ansiedelte, war das Strand- und Badeleben noch zweitrangig. Man kam auf die Sonneninsel, um zu sehen und gesehen zu werden und auf den langen Promenaden und Seebrücken zu flanieren. Dabei war das Sonnenschirmchen ein unverzichtbares Requisit der auf vornehme Blässe bedachten Damen. Dass hier heute coole Sonnenbrillen vorherrschen und Usedom diverse FKK-Hotspots bietet, hätte damals niemand geglaubt, der in einer schattigen Veranda seiner komfortablen Sommerresidenz entspannte.
Besondere Attraktionen der Bäderarchitektur: die Seebrücken
Während die Ahlbecker Seebrücke die älteste der insgesamt 189 Seebrücken in Mecklenburg-Vorpommern ist, wurde die 240 Meter lange Kühlungsborner Seebrücke 1991 neu gebaut. In Boltenhagen, dem zweitältesten deutschen Ostseebad, fand die Einweihung der 290 Meter langen, barrierefreien Seebrücke 1992 statt. Auch Rügen pflegt die Tradition der Seebrücken, an denen die Ausflugsdampfer anlegen. Die längste Pier auf der größten deutschen Ostseeinsel besitzt Sellin, dessen Seebrücke inklusive einem Restaurant 394 Meter misst und 1998 entstand. In Binz gab es bereits 1902 einen weit reichenden Steg in die Ostsee. Die neue Seebrücke von 1994 ist 370 Meter lang. Die erste nach der Wende erbaute Seebrücke Rügens befindet sich in Göhren. Sie wurde 1993 fertig und besitzt eine Länge von 350 Metern. Usedom ist besonders berühmt für seine Piers. Ein unverkennbares Symbol der Seebad-Architektur stellt die Seebrücke von Ahlbeck dar. Sie ragt 280 Meter in die Ostsee und beherbergt ein Restaurant in einem historischen weißen Gebäude mit vier Türmchen. Das Wahrzeichen der drei Kaiserbäder wird auch «Usedoms alte Dame» genannt und stammt aus dem Jahr 1898. Trotz zahlreicher Schäden konnte die Seebrücke zum größten Teil erhalten werden – 1994 wurde sie um 110 Meter auf 280 Metern verlängert. Auf dem Platz vor der Ahlbecker Seebrücke steht eine ansehnliche Jugendstiluhr aus dem Jahr 1911. Die aus dem Jahr 1891 stammende Kaiser-Wilhelm-Brücke von Heringsdorf brannte 1957 ab. Die moderne, 508 Meter lange Konstruktion aus Stahl und Glas von 1995 ist die längste Seebrücke Deutschlands. Sie bietet Läden, gastronomische Einrichtungen und ein Muschelmuseum. Unbebaut sind hingegen die 285 Meter lange Seebrücke des kleinsten Kaiserbades Bansin sowie die 315 Meter lange Pier von Zinnowitz, die als Vineta-Brücke bekannt ist. Mit diesen Flaniermeilen haben sich die ostdeutschen Seebäder ein echtes Markenzeichen geschaffen, das ebenso wie die sanierten Gebäude der Bäderarchitektur Tradition und Moderne auf eine Art miteinander vereinen, die bei den Urlaubern und Tagesgästen auf positive Resonanz stößt.
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